Patient Rudolf G.


Rudolf G. wurde im Herbst 1922 geboren. Aufgrund der Diagnose "Idiotie" wurde er 1925 im "Haus Reddersen", einer Pflegeeinrichtung für behinderte Kinder in Bremen, untergebracht.

Seine Mutter kümmerte sich nach Angaben der Ärzte seither kaum um ihn. In seiner Krankenakte wird er zu dieser Zeit als "störrig und lärmend" beschrieben. Er habe öfter Wutanfälle und könne sich außerdem nicht selbst anziehen oder selbstständig essen. Auch die Schule besuche er nur mit geringem Erfolg.

Zwangs­sterilisiert

Da Rudolf laut Krankenakte aus einer angeblich "erbbiologisch minderwertigen Familie" stammte, wurde 1936 seine Sterilisierung gefordert. Grund für diese Einschätzung war, dass sein Vater angeblich mehrfach vorbestraft war und seine Mutter nach Ansicht der Ärzte einen "beschränkten Eindruck" machte. Am 5. März 1937 erging der Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes Bremen, dass Rudolf unfruchtbar zu machen sei, da er "an einem Schwachsinn schwersten Grades leidet". Am 12. April wurde die Zwangssterilisation bei dem erst 15-Jährigen durchgeführt.

Im selben Jahr meldete das Haus Reddersen dem zuständigen Jugendamt Bremen, dass er langsame Fortschritte in der Schule mache und es ihm auch "nicht an gutem Willen" fehle. Allerdings konnte er aufgrund seiner schweren geistigen und körperlichen Behinderung nicht zur Arbeit – "nicht einmal [zu] leichte[n] Hilfsarbeiten in der Station" – herangezogen werden.

"Dauernd arbeits­unfähig"

Im März 1938 wurde Rudolf in das Gertrudenheim im Kloster Blankenburg bei Oldenburg verlegt, eine Einrichtung, in der vor allem behinderte Kinder und Jugendliche untergebracht wurden. Aufgrund einer kurzzeitigen Räumung des Klosters war Rudolf zwischenzeitlich auch Patient der benachbarten Heil- und Pflegeanstalt Wehnen.

Die Ärzte des Gertrudenheims bescheinigten dem 16-Jährigen weiter langsame, aber kontinuierliche Fortschritte sowie guten Willen in Bezug auf die Schule. Er erledige kleinere Aufgaben auf der Station, sei weniger unruhig und in einem körperlich guten Zustand. Ab 1940 verschlechterte sich sein Befinden wieder und er wurde als "dauernd arbeitsunfähig" beschrieben.

Am 20. September 1941 wurde Rudolf zusammen mit zahlreichen anderen Kindern aus dem Gertrudenheim in die Heil- und Pflegeanstalt Erlangen verlegt. Auch dort äußerte sich das medizinische Personal in einem Gutachten aus dem Jahr 1944 über ihn. Er sei "weitgehend verblödet", "nicht erziehungs- und bildungsfähig", außerdem sehr "vorlaut" und gerate oft in Streit mit anderen Patienten. Weitere Einträge in seiner Krankenakte sind nicht vorhanden.

Tod durch "Hungerkost"

Die Einschätzung, welche Patientinnen und Patienten der "Hungerkost" zum Opfer fielen, ist schwierig, da in der Regel eindeutige Hinweise auf die Verabreichung dieser Mangelkost in den Krankenakten fehlen. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden bisher nur in wenigen Fällen konkrete Aktenvermerke wie "erhält B-Kost" oder "im Rahmen der Kostveränderung verlegt" gefunden.

Allerdings begründen bestimmte Todesursachen, z. B. Kachexie (Auszehrung, extreme Abmagerung) und Marasmus (allgemeine körperliche Schwäche), ein plötzlicher Eintritt des Todes, spärliche Einträge in der Krankenakte, eine abwertende Sprache, eine angebliche familiäre Vorbelastung, ein hoher Pflegeaufwand oder durch Wiegekarten dokumentierter starker Gewichtsverlust den Verdacht, dass eine Patientin oder ein Patient vermutlich der "Hungerkost" zum Opfer fiel. Der aktuelle Stand der Forschung nimmt an, dass es in Erlangen mindestens zwei sog. "Hungerstationen" gab, auf welchen die dorthin verlegten Patientinnen und Patienten die "Hungerkost" erhielten.

Auch bei Rudolf G. finden sich solche Verdachtsmomente. So ist in seiner Akte eine Wiegekarte erhalten, die zeigt, dass sein Gewicht einige Monate nach der Aufnahme in Erlangen, im Januar 1942, bei 40 kg lag, bei seinem Tod drei Jahre später nur noch bei 28 kg. Hinweise auf medizinische oder pflegerische Maßnahmen gegen den Gewichtsverlust finden sich an keiner Stelle.

Rudolf verstarb am 15. November 1944 in Erlangen. Als Todesursache ist auf dem Leichenschauschein "Kachexie bei Idiotie" vermerkt.

Quelle: Alle Informationen und Zitate stammen aus der Krankenakte, Staatsarchiv Nürnberg, BKH – Erlangen, gestorben – G., R.

Durch Fallbeispiele werden aus Opfernamen Schicksale