Rekon­struktion der national­sozialis­tischen Kranken­morde in Erlangen

Forschungsprojekt NS-"Euthanasie" in Erlangen

Der Kopfbau der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt, in dessen Mittelrisalit der geplante Erinnerungs- und Zukunftsort eingerichtet werden soll, Fotograf: Erich Malter (StadtAE ohne Signatur)

Dank der wichtigen Vorarbeiten des Erlanger Psychoanalytikers und Medizinhistorikers Hans-Ludwig Siemen ist bisher bekannt, dass in den Jahren 1940/41 insgesamt 908 Erlanger Anstaltspatientinnen und Patienten im Rahmen der "Aktion T4" in die Tötungsanstalten Hartheim bei Linz und Pirna-Sonnenstein deportiert und dort vergast wurden.

Unbekannt ist bislang, wie viele Patienten und Patientinnen der Erlangen Anstalt der bis Kriegsende andauernden systematischen Mangel­versorgung ("Hungerkost") zum Opfer fielen. Als sehr wahrscheinlich kann gelten, dass über 1.000 behinderte und psychisch kranke Menschen verhungerten bzw. an durch Hunger hervorgerufenen Mangelerkrankungen starben.

Täter und Mitwisser benennen

Das Forschungsprojekt zielt auf eine akribische Rekonstruktion der Patiententötungen in Erlangen. Die medizinischen, gesellschaftlichen und administrativen Rahmenbedingungen, die die Anstaltsmorde ermöglicht haben, müssen untersucht und die Verantwortlichkeiten der Täterinnen und Täter, Mitwisserinnen und Mitwisser benannt werden. Hierzu zählen Vertreter des Anstaltspersonals, aber auch der Universitätskliniken, des städtischen Gesundheitswesens (Gesundheitsamt, Fürsorgestellen) und der Stadt. Wie reagierten Stadt, Stadtgesellschaft und Universität auf die programmatische Vernichtung vermeintlich "lebensunwerten Lebens"?

Diese Frage ist insbesondere für die Universitätspsychiatrie zu stellen. Sie war in einem Gebäude der Heil- und Pflegeanstalt untergebracht und dieser formal untergeordnet.

Porträtaufnahme von Friedrich Meggendorfer, ohne Jahr (StadtAE V.C.b.726)

Als sicher kann gelten, dass Friedrich Meggendorfer, ab 1934 Direktor der Universitätsnervenklinik und Ordinarius für Psychiatrie in Erlangen, über die "Aktion T4" Kenntnis hatte. Von ihm in Gang gesetzte Patientenverlegungen aus der Nervenklinik in die Heil- und Pflegeanstalt unmittelbar vor den "T4"-Transporten werfen die Frage auf, ob der Mitwisser Meggendorfer auch zum Mittäter der Krankenmorde wurde. Darüber hinaus wird genau zu erforschen sein, welche weiteren Berührungspunkte es zwischen Universitätsleitung und den Beteiligten bzw. Mitwissern der Krankenmorde gegeben hat, und in welcher Weise sich die Repräsentanten der Friedrich-Alexander-Universität positionierten.

Wer wusste noch Bescheid?

Und wie reagierten die katholische und evangelische Kirchengemeinde auf die (geheimen?) Krankenmorde in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft? Wie hat die Anstaltsseelsorge in der Heil-und Pflegeanstalt die Erfassung und Abtransporte "ihrer" Anstaltskranken wahrgenommen? Nahm die Stadtgesellschaft die Patientenmorde hinter den Anstaltsmauern widerspruchslos hin?

Die Heil- und Pflegeanstalt war eine Einrichtung des heutigen Bezirksverbandes Mittelfranken. Ärztinnen und Ärzte sowie Pflege- und Hauspersonal waren Beschäftigte des Bezirks, ihm unterlagen somit die Personalverantwortung sowie die Rechtsaufsicht. Die Kosten für die Anstaltsaufenthalte wurden in den allermeisten Fällen vom damaligen "Landesfürsorgeverband Ober- und Mittelfranken" übernommen. Waren sich die für den radikalen Sparkurs Verantwortlichen der Konsequenzen der Absenkung der Pflegekosten auf 2,70 RM bewusst?

Auf dem Schaubild sehen Sie sowohl die Opfer, als auch die beteiligten Akteure und Institutionen der NS-"Euthanasie" in Erlangen in ihrer wechselseitigen Verflechtung (erstellt von Marion Voggenreiter)

Im Projekt geht es somit zum einen darum, die jeweiligen Handlungsspielräume der Beteiligten differenziert herauszuarbeiten. Diese reichten von tatkräftiger Unterstützung über gehorsame Diensterfüllung bis hin zu den seltenen Fällen von nonkonformem Verhalten. Zum anderen aber geht es um das individuelle Gedenken an die Opfer der "Euthanasie" und den Versuch, ihr Schicksale im kollektiven Gedächtnis der Stadtgesellschaft zu verankern.