Umzug an die Peripherie

Der Neubau des Bezirks­krankenhauses am Europakanal

Der Eingang zum neuen Bezirkskrankenhaus am Europakanal 1982, Fotograf: Wolf Schöffel (StadtAE VIII.5.D.)

Der peripher am Europakanal gelegene, 1977 mit einem Kostenaufwand von 130 Millionen fertig gestellte Neubau des Bezirkskrankenhauses bot jetzt für über 1000 Patientinnen und Patienten umfassende Diagnostik- und Therapie­möglichkeiten.

Der Bezirk Mittelfranken sah mit dem Neubau, der neben dem klinisch-psychiatrischen Bereich und der Einrichtung der Arbeits- und Beschäftigungstherapie über ein großes, als offene Begegnungsstätte konzipiertes Sozialzentrum verfügte, eines seiner größten und bedeutendsten Projekte realisiert.

Jahrelange Planungs- und Verhand­lungs­phase

Dem Umzug vorausgegangen war eine jahrelange Planungs- und Verhandlungsphase zwischen dem Freistaat Bayern, der Stadt Erlangen, der Universität und dem Bezirk Mittelfranken als Träger der Einrichtung. 1958 hatte der Verwaltungsausschuss der Universität erstmalig beim Bezirk angefragt, ob dieser bereit sei, einen Teil des Areals der Anstalt für den dringend notwendigen Ausbau der Universität, insbesondere der Universitätskliniken zu verkaufen. Da der Erwerb des Geländes für den Ausbau und die Weiterentwicklung die Universität unabdingbar schien, stimmte der Bezirk zwar keinem Teilverkauf zu, bot aber einen Auszug aus der im Zentrum der Stadt gelegenen Heil- und Pflegeanstalt sowie die Überlassung des Geländes an.

Der Rektor der Friedrich-Alexander-Universität Prof. Dr. Nikolaus Fiebiger bei der Grundsteinlegung des neuen Bezirks­krankenhauses am 10. Juli 1970, Fotograf: Rudi Stümpel (StadtAE VIII.3222.N.1/30)

Nach gründlicher Interessenabwägung zwischen den Belangen der Universität und denen des Bezirks habe man sich entschlossen, in einer Zeit, "in der Forschung und Wissenschaft ausschlaggebend für unser altes, freies Europa sein können"1 den Universitätsbelangen den Vorrang zu geben. Im Gegenzug sollte die bayerische Staatsregierung den Neubau einer bezugsfertigen Klinik im Westen der Stadt finanzieren.

Der 1962 vertraglich geregelten Übereignung des Geländes an den Freistaat Bayern für den Ausbau der Universitätskliniken folgte auf Seiten der Universität eine intensive, zeitweise nahezu hektischen Beratungs- und Planungsphase der 1962 eigens gegründeten "Kommission zur Erstellung eines Gesamtbebauungsplanes für das Gelände". Für die Verlegung und Planung des neuen Bezirksklinikums legte u. a. der damalige Direktor der Heil- und Pflegeanstalt, Dr. Josef Hann, ein innovatives Konzept vor.

Tatsächlich galt das Bezirkskrankenhaus bei seiner Einweihung mit über 480 Fachkräften als eines der modernsten Krankenhäuser bundesweit. Ziel der Behandlung war jetzt nicht länger nur die "Beobachtung, Registrierung und Sicherung" der Patientinnen und Patienten, sondern ihre Behandlung und die "Erziehung des Kranken zum rechten Gebrauch seiner wiederzugewinnenden Freiheit".2

Gebäude­leerstand und Plünderungen

Der enorme, nach dem sukzessiven Auszug der Heil- und Pflegeanstalt entstandene Gebäudeleerstand provozierte den aktiven Widerstand der studentisch geprägten "Bürgerinitiative Maximiliansplatz", die als Antwort auf den eklatanten Wohnraummangel 1978 mehrere Häuser am Maximiliansplatz besetzte.

Auf Bettlaken geschriebene Botschaften machen das Anliegen der Hausbesetzer deutlich, 1978, Fotograf: Peter Sigling (StadtAE VI.Z.b.6648)

Zudem beunruhigten wiederholte Plünderungen auf dem verlassenen Gelände der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt die Bevölkerung. Unter nicht geklärten Umständen gelangten auch noch auf dem Gelände befindliche Krankenblätter in größerem Umfang in die Öffentlichkeit.

Veränderung der Versorgungs­landschaft

In den nachfolgenden Jahren musste die noch als psychiatrisches Großkrankenhaus konzipierte Einrichtung immer wieder auf neue, durch die Empfehlungen der Psychiatrie–Enquête Kommission angestoßene Entwicklungen in der psychiatrischen Versorgung reagieren, insbesondere die stationären Bereiche für chronische Langzeitpatientinnen und -patienten waren nicht mehr zeitgemäß. Durch Strukturänderungen in den psychiatrischen Funktionsabläufen, Spezialisierungen und Differenzierungen in verschiedene Bereichen und Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten die Behandlungszeiten deutlich reduziert werden. 1987 erfolgte durch Hans-Ludwig Siemen und den damaligen Direktor die Gründung des gemeinnützigen Vereins "Die Wabe", der sich die soziale und berufliche Wiedereingliederung von Menschen mit psychischen Erkrankungen zum Ziel gesetzt hat.

Luftaufnahme des Klinikums am Europakanal 2003, Fotograf: Hajo Dietz (StadtAE VI.A.b.1339)

Heute betreut das Klinikum am Europakanal jährlich 8.500 stationäre und teilstationäre sowie 16.800 ambulante Patientinnen und Patienten. Flankierende politische Maßnahmen der Veränderung der Versorgungslandschaft waren u. a. der zweite Landesplan zur Versorgung psychisch Kranker und Behinderter der bayerischen Staatsregierung (1990), zur bedarfsgerechten Versorgung der Kranken. Im Rahmen des neuen Bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (BayPsychKHG) 2018 soll auch die organisierte psychiatrische Selbsthilfe gestärkt werden.

Konzepte, Kontroversen, Kompromisse

Im Jahr 2020, nunmehr 42 Jahre nach Auszug steht das alte Gelände der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt wieder im Mittelpunkt lebhafter Diskussion um konkurrierende Nutzungskonzepte.

Das Gebäude Schwabachanlage 10 vor dem Teilabbruch im März 2020, Fotograf: Erich Malter (StadtAE ohne Signatur)

In den 1970er Jahren gab es keinerlei Überlegungen zu einem erhaltenswerten oder zu gestaltenden "Erinnerungsort" an die Krankenmorde. Die Erinnerungskultur, die mit der stets als schwierig empfundenen "Vergangenheits­bewältigung" verknüpft ist, spielte noch keine Rolle in Gesellschaft, Stadt und Hochschule.

Erfahren Sie mehr über die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt

  1. UAE C3/1 1217: Dokumentation des Bezirks Modell Mittelfranken-Bezirkskrankenhaus Erlangen, S. 14.
  2. UAE C3/1 1217: Dokumentation des Bezirks Modell Mittelfranken-Bezirkskrankenhaus Erlangen, S. 26.