"Weiteres ist über das Schicksal des B. hier nicht bekannt"

Die jüdischen Opfer der NS-Krankenmordaktionen in Erlangen

Presseartikel in den Erlanger Nachrichten am 16. September 2020 von Marion Voggenreiter und Dorothea Rettig

Blick in die ehemalige Gaskammer der Tötungsanstalt Hartheim, heute Teil der Gedenkstätte, Fotograf: Andreas Jakob

In loser Folge berichtete eine Artikelserie in den Erlanger Nachrichten 2020 über neue Erkenntnisse im Forschungsprojekt.

Sonderaktion gegen jüdischen Patientinnen und Patienten

Am 1. November 1940 verließ ein Transport mit 122 Frauen und Männern die Heil- und Pflegeanstalt Erlangen und brachte sie in die Tötungsanstalt Sonnenstein (bei Pirna), wo sie wohl noch am selben Tag ermordet wurden. Dieser Tag wird im Allgemeinen als Beginn der „Aktion T4“ in Erlangen angesehen. Weniger bekannt ist, dass bereits am 16. September 1940, heute vor 80 Jahren, ein Transport im Rahmen einer Sonderaktion gegen jüdische Patientinnen und Patienten stattfand. An diesem Tag wurden 21 Betroffene in die Anstalt Eglfing-Haar bei München – zu diesem Zeitpunkt Sammelanstalt für alle jüdischen Anstalts-Patienten in Bayern – gebracht und wahrscheinlich kurze Zeit später in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz ermordet. Damit begann auch in Erlangen die Ermordung jüdischer Anstalts-Patientinnen und -Patienten, der reichsweit mindestens 2000 jüdische Menschen zum Opfer fielen.

Rekonstruktion der Schicksale ist schwierig

Die Rekonstruktion der Schicksale der jüdischen Patientinnen und Patienten erweist sich bis heute als schwierig, da ihr weiterer Weg und ihr Verbleib in den Quellen oft nicht oder absichtlich falsch dokumentiert ist und für viele keine Krankenakten erhalten sind. Für einige der Opfer aus Erlangen sind Akten im Staatsarchiv Nürnberg überliefert, so dass sich zusammen mit anderen Quellen, z. B. Einträgen in Geburtsregistern, ihr Schicksal zumindest zum Teil nachvollziehen lässt. Die im Jahr 2007 für die am 16. September abtransportierten Jüdinnen und Juden verlegten Stolpersteine vor dem früheren Direktionsgebäude der Heil- und Pflegeanstalt (heute: Sitz der Kaufmännischen Direktion des Universitätsklinikums am Maximiliansplatz 2) weisen für alle 21 als Todesort noch die „Heilanstalt Chełm“ auf. Die Angaben der jeweiligen Todestage liegen zwischen dem 29. September 1940 und dem Jahr 1942.

Gefälschte Sterbeurkunden

Nach heutigem Kenntnisstand der Forschung (zum Zeitpunkt der Stolpersteinverlegung aber noch unbekannt) sind diese Angaben insofern unzutreffend als sie auf Angaben aus den gefälschten Sterbeurkunden beruhen. Die „Heilanstalt Chełm“ bei Lublin war bis zur Ermordung ihrer polnischen Patientinnen und Patienten im Januar 1940 durch SS-Einheiten eine psychiatrische Anstalt. Ab diesem Zeitpunkt wurde sie als fiktive Anstalt weitergeführt, um das Schicksal der ermordeten jüdischen Patientinnen und Patienten zu verschleiern. Ein dort vorgeblich bestehendes Sonderstandesamt (mit tatsächlichem Sitz in Berlin), welches von der „T4“-Zentrale eingerichtet worden war, versandte gefälschte Sterbeurkunden an die Angehörigen. Um auffällige Häufungen in den Sterbedaten zu vermeiden und um sich durch die Weiterberechnung der Unterbringungskosten bis zum angeblichen Todestag finanziell zu bereichern, wurde das Todesdatum auf diesen Urkunden um bis zu 1 ½ Jahre vordatiert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass alle 21 Patientinnen und Patienten unmittelbar nach ihrer Weiterverlegung in die Tötungsanstalt Hartheim im September 1940 getötet wurden.
Vier weitere Erlanger Patienten wurden am 21. Januar 1943 nach Berlin in das Krankenhaus der Israelitischen Kultusgemeinde abtransportiert. Sie waren trotz der bereits massiven Judenverfolgung in Deutschland bis zur Räumung am 30. Juni 1941 in der katholischen Anstalt Gremsdorf untergebracht gewesen. Zwei von ihnen starben kurz nach dem Transport im Jüdischen Krankenhaus Berlin, zwei weitere wurden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde

Auch außerhalb von Sammeltransporten wurden Jüdinnen und Juden, welche in der Erlanger Anstalt untergebracht waren, Opfer der nationalsozialistischen Krankenmorde. Eine jüdische Patientin wurde 1942 zunächst in das Nürnberger Gefängnis überwiesen, bevor sie nach Eglfing-Haar verlegt und ein Jahr später in Auschwitz ermordet wurde. Eine weitere Patientin wurde 1941 nach Hause entlassen und schien somit dem Tod für den Moment entkommen zu sein. Zu einem unbekannten späteren Zeitpunkt wurde sie aber in die israelitische Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn im Rheinland eingewiesen – seit Dezember 1940 die einzige Anstalt, in die psychisch kranke und behinderte Jüdinnen und Juden behandelt werden durften. Von dort wurde sie 1942 im Rahmen der fast vollständigen Räumung der Anstalt deportiert. Sie starb im Ghetto Izbica. Auch aus der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen wurde im Januar 1942 eine Patientin nach Sayn verlegt, deren weiterer Verbleib bislang ungeklärt ist. Ein jüdischer Patient starb im Januar 1943 in der Erlanger Anstalt, ein gezielt herbeigeführter Tod durch Verabreichung der sog. „Hungerkost“ liegt nahe. Ob und wenn ja wie viele weitere jüdische Patientinnen und Patienten in der Heil- und Pflegeanstalt oder der Universitäts-Psychiatrie Erlangen an „Hungerkost“ und struktureller Vernachlässigung starben oder zur Tötung in andere Anstalten oder Konzentrationslager verlegt wurden, wird im Zuge des aktuellen Forschungsprojekts vom Institut für Geschichte und Ethik der der Medizin und dem Stadtarchiv untersucht.

Doppelte Stigmatisierung

Jüdische Anstalts-Patientinnen und -Patienten waren unter den Opfern der NS-Krankenmordaktionen einer doppelten Stigmatisierung ausgesetzt, da sie nicht nur aufgrund ihrer psychischen Erkrankung oder Behinderung, sondern auch wegen ihrer „Rasse“ als „minderwertig“ galten. Sie waren damit besonders gefährdet und wurden zu den ersten Opfern der NS-Krankenmorde. Ihre Ermordung in den Gaskammern der Tötungsanstalten bereitete den Weg zur Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden im Holocaust.