Hinter hohen Anstaltsmauern

Trotz Abschottung blieb nicht gänzlich verborgen, was in der Heil- und Pflegeanstalt geschah

Presseartikel in den Erlanger Nachrichten am 09. September 2020 von Dorothea Rettig

Das Hochwasser im Juli 1941 brachte die Mauer um das Gelände der Heil- und Pflegeanstalt auf der Höhe der Ludwigsbrücke zum Einsturz, Fotograf: Josef Keller (StadtAE VI.H.b.171)

In loser Folge berichtete eine Artikelserie in den Erlanger Nachrichten 2020 über neue Erkenntnisse im Forschungsprojekt.

Patientin Frau F.

Die Patientinnen und Patienten der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt waren zwar hinter hohen Anstaltsmauern versteckt. Der folgende Fall von Frau F. steht stellvertretend für die zahlreichen Situationen, in denen Menschen der Stadtgesellschaft jedoch bewusst oder unbewusst mit den Patientinnen und Patienten und ihren Schicksalen in Berührung kamen, und zeigt so, dass die Behauptung, niemand hätte etwas von den verübten Medizinverbrechen gewusst, nicht tragbar ist.
Am 18. Juni 1930 nachmittags erschienen auf der Polizeihauptwache in Erlangen drei Frauen, die alle in demselben Haus wohnten, und gaben an, eine ihrer Hausmitbewohnerinnen trage sich mit Selbstmordgedanken. Sie befürchteten, sie könnte das Haus in Brand stecken. Die angezeigte Frau F. sei schon mehrmals in der Heil- und Pflegeanstalt untergebracht gewesen und leide unter Wahnideen. Da sich der Ehemann nicht um sie kümmere, müsse die Polizei einschreiten. Die Polizei nahm daraufhin Kontakt zu einem Oberarzt der Heil- und Pflegeanstalt auf und nach Darlegung des Sachverhalts ordnete dieser die Unterbringung in der Anstalt an. Da eine dauerhafte Einweisung nur mit einem entsprechenden amtsärztlichen Gutachten und einem darauffolgenden Beschluss des Stadtrats möglich war, wurde Frau F. vom Amtsarzt eingehend untersucht und ein entsprechendes Gutachten erstellt. Es folgten unterschiedlich lange Aufenthalte der Patientin in der Heil- und Pflegeanstalt. Dabei wurde jede Entlassung und auch jede Wiederaufnahme an den Stadtrat gemeldet. 1934 wurde Frau F. entmündigt.

Wer konnte etwas wissen?

In diesem Jahr trat auch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) in Kraft. Wer als „erbkrank“ galt oder an Alkoholismus litt, musste den Behörden von niedergelassenen Ärzten oder den Anstalten gemeldet werden. Die Beurteilung darüber, wer den Bestimmungen des Gesetzes folgend zwangssterilisiert werden sollte, oblag den Erbgesundheitsgerichten, welche anhand von ärztlichen Gutachten (auch aus der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen) darüber entschieden. Nicht nur die Richter und Gutachter wussten Bescheid, auch die für die Durchführung zuständigen Ärzte waren informiert. In Erlangen waren dies etwa die Ärzte der Frauenklinik und der Chirurgischen Klinik. Da der Eingriff operativ vorgenommen wurde, waren vor allem Frauen aufgrund der Schwere der Maßnahme oftmals längere Zeit nicht arbeitsfähig. Die Vergütung des dadurch entstehenden Verdienstausfalls übernahm die Ortskrankenkasse beziehungsweise der Bezirksfürsorgeverband. Da die Anträge explizit den Grund nannten, waren auch die Sachbearbeiter entsprechend im Bilde. Im Fall von Frau F. ist über eine Zwangssterilisation nichts bekannt, sie kann jedoch nicht ausgeschlossen werden.

Auch Kinder waren nicht geschützt

Nicht nur Erwachsene wurden in einem engmaschigen Netz von Ärzten, Fürsorge, Polizei und eigenem persönlichen Umfeld überwacht. Auch Kinder waren davor nicht geschützt. So ist davon auszugehen, dass sich die Behörden genau über die „Gesundheit“ der Kinder von Frau F. ins Bild setzten. Hebammen, Geburtshelfer und Kinderärzte waren dazu angehalten, diejenigen zu melden, die im Verdacht standen, geistig oder körperlich behindert zu sein. Selbst wenn die Kinder im Säuglingsalter den Behörden entgangen waren, konnte es sein, dass sie spätestens nach der Einschulung deren Aufmerksamkeit erregten. Das betreuende Lehrpersonal musste Schülerbögen von „verdächtig“ erscheinenden Kindern an das zuständige Erbgesundheitsgericht weiterreichen.

Seelsorgerische Betreuung

Einmal in der Heil- und Pflegeanstalt untergebracht, stand den Patientinnen und Patienten wie Frau F. seelsorgerische Betreuung zur Verfügung. Diese leistete für die Protestanten der Pfarrer der Altstädter Kirche, für die Katholiken der Pfarrer der Herz-Jesu-Kirche in unmittelbarer Nachbarschaft zur Anstalt und für die jüdischen Patientinnen und Patienten bis zu seiner Emigration 1938 der Religionslehrer Justin Fränkel. Diese drei Männer hatten einen ungehinderteren Blick hinter die Anstaltsmauern als viele andere. Die beiden verbleibenden christlichen Kirchenvertreter gehörten zusammen mit dem Anstaltspersonal wohl zu den Ersten, denen nach Einführung der „Hungerkost“ die zunehmende Zahl der Beerdigungen auffällig vorkommen musste.

Mit nur 40 Jahren ermordet

Über das weitere Schicksal von Frau F. ist nur wenig bekannt. Die wenigen Unterlagen zu ihr enden mit ihrer Entmündigung. Als gesichert gilt jedoch, dass sie zusammen mit 179 anderen Patientinnen und Patienten am 21. Januar 1941 mit der Begründung „arbeitet fast nichts” in die Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz gebracht und dort mit nur 40 Jahren vergast wurde.