Die Mauer des Schweigens

Die Verhaftung der Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen Wilhelm Einsle und Hermann Müller am 12. Juni 1945

Presseartikel in den Erlanger Nachrichten am 15. Juni 2020 von Susanne Ude-Koeller

Die Grünanlage am Maximiliansplatz vor den Toren der Heil- und Pflegeanstalt war ein gut besuchter Erholungsort, Fotograf: Josef Keller (StadtAE VIII.5.D.1.Z.153)

In loser Folge berichtete eine Artikelserie in den Erlanger Nachrichten 2020 über neue Erkenntnisse im Forschungsprojekt.

„Auf Anordnung der Militärregierung“

Mit dem Vorrücken der III. Infanteriedivision der US-Armee auf Erlangen hatte sich die Lage in der Stadt im April 1945 dramatisch zugespitzt, das von den Amerikanern gestellte Ultimatum drohte abzulaufen, eine kampflose Übergabe zu scheitern. Die Kliniken und Lazarette hatten gehfähige Patienten vorzeitig entlassen, Schwerkranke auf Bahren evakuiert, kranke Kinder in Körben davon getragen. Ärzte und Pflegepersonal zogen sich mit den verbliebenen Patienten und Patientinnen in Keller und Luftschutzräume zurück. Zu den Patienten, die dem drohenden Beschuss der Stadt besonders wehrlos ausgeliefert gewesen wären, gehörten die Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen. Zwei Monate später geriet die Anstalt in den Fokus der Strafverfolgung durch die Militärregierung. Die Vorgänge um die Verhaftung der beiden Anstaltsleiter zeigen in anschaulicher Weise, wie auch in Erlangen die Verantwortlichen der NS-Krankenmorde jegliche Schuld von sich wiesen und sich zu Opfern stilisierten.

Die Verhaftung von Wilhelm Einsle und Hermann Müller

Am 12. Juni 1945 wurden der Anstaltsleiter, Wilhelm Einsle, und sein Stellvertreter Hermann Müller auf dem Gelände der Anstalt von amerikanischen Soldaten verhaftet. Laut Schilderungen von Einsle, aber auch Familienangehörigen von Müller sowie weiteren Zeugen wurden sie dabei mehrfach geschlagen. Zudem seien sie beide bei der Festnahme des Mordes an Geisteskranken beschuldigt worden. Einsle sei seine Aktentasche mit wichtigem Entlastungsmaterial entrissen worden, die er vorsorglich zusammengestellt hatte. Wohl in Erwartung seiner drohenden Verhaftung hatte sich Einsle zuvor auch mit dem Anstaltsarzt Heinrich Tschakert beraten, wie man dem Vorwurf entgegen treten könne,  in der Anstalt seien Patienten durch Hungerkost getötet worden. Auch später wird Einsle weiterhin die Ansicht vertreten, seine Verhaftung und Entlassung aus dem Amt beruhten lediglich auf böswilligen Verleumdungen.

"Da habt ihr euren Mörder"

Laut Bericht seiner Familie wurde auch Müller von den Amerikanern auf den Stationen der Anstalt den Patienten vorgeführt. Eine Pflegerin schilderte die Vorgänge bei der Verhaftung so: Die Geisteskranken hätten Müller massiv beschimpft. Die Amerikaner hätten ihn ins Gesicht geschlagen und im Tagesraum schließlich auf einen Tisch gestellt mit den Worten, da habt ihr Euren Mörder, jetzt bekommt er nicht zu essen und dann wird er aufgehängt. Auch die gegen Müller erhobenen Vorwürfe, für die Krankenmorde verantwortlich zu sein, wurden später als unbegründet zurückgewiesen, mehr noch: Müllers kurz nach seiner Verhaftung begangener Selbstmord wurde als Reaktion auf die zu Unrecht erlittene Schmach gedeutet.

Werner Leibbrand als neuer Direktor

Kurz nach der Verhaftung Einsles und Müllers ernannte der zuständige Militärgouverneur für Bayern, Captain Dye, den zuvor in Nürnberg tätigen Psychiater Werner Leibbrand zum Direktor. Vorausgegangen war eine eher zufällige Begegnung der beiden. Leibbrand, durch seinen engen Kontakt zu seiner späteren Frau, der Ärztin Annemarie Wettley, gut mit den Erlanger Verhältnissen vertraut, hatte sich nach einer Arbeitsmöglichkeit für Psychiater erkundigt. Kurzerhand bot Dye ihm den Direktorenposten an. Leibbrand, zu dieser Zeit mit einer Jüdin verheiratet und zudem aus politischen Gründen verfolgt, galt als unbelastet und fachlich versiert: Er hatte in seiner Berliner Zeit ein modernes psychiatrisches Fürsorgezentrum für Alkohol- und Drogenabhängige mitbegründet.

"Einigermaßend erschütternd"

An der durch extreme Versorgungsmängel gekennzeichneten Situation der Patienten der Heil- und Pflegeanstalt hatte sich auch nach dem Einmarsch der Amerikaner zunächst nichts geändert. Erst recht nicht für die auf den Hungerstationen vergeblich um ihr Leben kämpfenden Opfer der Hungerkost. Erst am 15. Juni traf auf Anordnung der Militärregierung eine Kommission zur Begehung der „Verhungerungsstation“ ein. Laut Kommissionsbericht waren mehr als 100 Frauen und Männern so stark abgemagert und unterernährt, dass ein Teil von ihnen unrettbar dem Tode verfallen war. Der Kommission gehörten neben dem Oberbürgermeister Herbert Ohly führende Vertreter von Stadt, Universität und Kirche an. Leibbrand kommentierte die Vorführung lakonisch: „Immerhin war der Laieneindruck einigermaßen erschütternd.“

„Einigermassen erschütternd“ blieb die Versorgungslage für die Patienten noch lange. Noch im Januar 1946 gab es kaum warmes Wasser, dringend benötigte Reparaturarbeiten konnten nicht durchgeführt werden. Die Schäden an der Anstaltsmauer wurden allerdings bald repariert. Die Mauer des Schweigens war wieder geschlossen.